Hildegard von Bingen
Hildegard von Bingen (* 1098; † 17. September 1179 im Kloster Rupertsberg bei Bingen) war eine Mystikerin, deren Leistungen heute von unterschiedlichen Disziplinen wie Medizin, Biologie und Musik anerkannt werden. Sie wird offiziell als Heilige verehrt, auf eine Heiligsprechung wurde verzichtet. Politisch hat sie es in der Zeit des Mittelalters als Frau geschafft, sich gegen herrschende Meinungen durchzusetzen. Die Andersartigkeit ihrer Denkansätze birgt noch heute Entdeckungspotential und Interpretationsmöglichkeiten. Ihre Reliquien werden in Eibingen aufbewahrt.
Vita
Hildegard von Bingen wurde als Tochter der Edelfreien Hildebert und Mechthild geboren. Weder Geburtstag noch Geburtsort werden von ihr oder ihren zeitgenössischen Biografen genannt. Alle Nennungen des Geburtsortes (wie Bermersheim vor der Höhe, Böckelheim und weitere) beruhen auf Annahmen.
Ab 1106 (eine andere Quelle nennt 1112) lebte Hildegard bei Jutta von Sponheim, ihrer Lehrmeisterin, in einer Klause an dem von Benediktinermönchen bewohnten Kloster Disibodenberg.
Nach dem Tode Juttas von Sponheim wurde sie 1136 zur Lehrmeisterin dieser Klause gewählt und gründete um 1150 gegen den Widerstand ihres Abtes Hugo das Kloster Rupertsberg auf der linken Seite der Nahe. Heute gehört der später entstandene Ort Bingerbrück zu Bingen am Rhein. Der Mainzer Erzbischof Heinrich bestätigte die Überschreibung der durch ihren Ruf sehr umfangreich gewordenen Klostergüter. Das Kloster wurde durch Schenkungen äußerst wohlhabend. Hildegard gründete 1165 in Eibingen ein noch bestehendes Filialkloster, das heute die Rechte der Klöster Rupertsberg und Eibingen besitzt (seit der Zerstörung von Rupertsberg 1660). Die erhaltenen Kunstgegenstände, vor allem das gold-purpurne Antependium, zeugen vom Reichtum Rupertsbergs.
Durch Bernhard von Clairvaux auf ihrem Weg bekräftigt, begann Hildegard 1141 in Zusammenarbeit mit Propst Volmar von Disibodenberg und der Nonne Richardis von Stade, ihre Visionen und theologischen wie anthropologischen Vorstellungen in lateinischer Sprache zu veröffentlichen. Da sie selbst kein Latein beherrschte, ließ sie alle Texte von ihrem Schreiber übersetzen. Ihr Hauptwerk Liber Scivias Domini (Wisse die Wege des Herrn) entstand in einem Zeitraum von sechs Jahren. Dieses Buch enthält 35 Miniaturen. Diese Miniaturen theologischen Inhalts sind äußerst kunstvoll in leuchtenden Farben gemalt und dienen hauptsächlich zur Veranschaulichung des komplizierten und tiefsinnigen Textes.
Interdisziplinäres Wirken
Die Bedeutung von Hildegards von Bingens lässt sich schlecht in einzelne Kategorien zwängen, da sich das Weltbild seit der Aufklärung stark verändert hat. In ihrer Zeit waren bedeutende Personen Universalgelehrte. Hildegard von Bingen wird allgemein gesprochen als eine Person eingeschätzt, die durch eigene Denkansätze neue Impulse setzte und damit einen erweiterten, ganzheitlichen Blickwinkel ermöglichte.
Religiöse und politische Bedeutung in ihrer Zeit
Ihr selbstbewusstes, charismatisches Auftreten führte zu ihrer großen Bekanntheit. Sie predigte als erste Nonne öffentlich dem Volk die Umkehr zu Gott (u. a. auf Predigtreisen nach Mainz, Würzburg, Bamberg, Trier, Metz, Bonn und Köln). Kaiser Friedrich I. Barbarossa berief sie zu seiner Pfalz Ingelheim, um Rat zu suchen. Auch im hohen Alter unternahm sie noch Reisen zu verschiedenen Klöstern.
Sie wurde für viele Menschen zur Wegweiserin wegen ihres Glaubens und ihrer Lebensart. Schon zu ihren Lebzeiten nannten viele sie eine Heilige. Ihre moralische Lehre faszinierte zu ihrer Zeit nicht nur die Nonnen, sondern auch Mönche, Adlige und Laien. Mit bewundernswertem Selbstbewusstsein setzte sie ihre Interessen gegen andere durch, nicht immer zu persönlichen Zielen, sondern aus Überzeugung (z. B. bei der Bestattung eines Exkommunizierten oder dem Abstreiten der Besitzrechte des Disibodenberges).
Ihre umfangreiche Korrespondenz mit hohen geistlichen und weltlichen Würdenträgern (darunter auch Bernhard von Clairvaux) ist in ca. 300 Schriftstücken erhalten geblieben. Darin zeigt sie ihren außergewöhnlich starker Charakter und Gottesglaube. Für ihre Zeit wirken ihre offenen Worte und Ermahnungen, die sie gegenüber König und Papst führte, besonders bemerkenswert. Ihre Herkunft sowie die Besetzung höchster Kirchenämter durch Verwandte (u. a. ihr Bruder Hugo als Domkantor von Mainz) verschafften ihr den nötigen Einfluss, um angehört zu werden.
Bedeutung in Biologie und Medizin
Bekannt ist, dass Hildegard in den 1150er Jahren auch medizinische Abhandlungen verfasste. Im Gegensatz zu den religiösen Schriften sind hier jedoch keine zeitgenössischen Exemplare erhalten. Alle zitierten Texte stammen aus späteren Zeiten 13. bis 15. Jahrhundert). In diesem Zeitraum gab es naturgemäß viele Abschriften, Ergänzungen und Umschreibungen. Heute sind 13 Schriften bekannt, die sich mit Hildegard als Verfasserin schmücken, keine ist jedoch mit der anderen identisch. Eine originale Hildegard-Medizin gibt es also nicht.
Interessant für Biologie und Medizin sind ihre Abhandlungen über Pflanzen und Krankheiten. Nach 1150 verfasste Hildegard mit Causae et Curae (Ursachen und Heilungen) ein Buch über die Entstehung und Behandlung von verschiedenen Krankheiten. Das zweite der naturkundlichen Werke heißt Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum, was auf Deutsch so viel bedeutet wie: "Buch über das innere Wesen (Beschaffenheit und Heilkraft) der verschiedenen Kreaturen und Pflanzen", weshalb Hildegard heute teilweise als erste deutsche Ärztin bezeichnet wird. Zu ihrer Zeit waren Ärzte noch Klostermediziner und Wunderheiler, die kein Studium an einer Universität absolviert hatten. Die Leistung Hildegards liegt unter anderem darin, dass sie das damalige Wissen über Krankheiten und Pflanzen aus der griechisch-lateinischen Tradition mit dem der Volksmedizin zusammenbrachte und erstmals die volkstümlichen Pflanzennamen nutzte. Sie entwickelte eine eigene Ansicht von Körperlichkeit – einschließlich der Sexualität.
Bedeutung in der Musik
Die unter dem Namen "Symphonia (h)armoniae celestium revelationum" (Symphonie der Harmonie der himmlischen Offenbarungen) überlieferte Sammlung geistlicher Lieder der Hildegard von Bingen umfasst 69 Stücke mit überlieferten Melodien, vier Liedtexte ohne Melodien sowie das in Text und musikalischer Notation erhaltene theologische Singspiel "ordo virtutum", das in zwei Fassungen vorliegt (Urfassung in der Visionsschrift "Scivias" sowie im sog. "Rupertsberger Riesencodex" (Wiesbaden)) und das am reinsten die visionäre Gedanken- und Bilderwelt Hildegards zum Ausdruck bringt.
Die kompositorische Leistung der Hildegard von Bingen wird in der Fachwelt jedoch kontrovers diskutiert. Die in vielen Teilen stark vom zeitüblichen Gregorianischen Gesang abweichenden Notationen und reichhaltigen Melismen mit ihren weiten Amplituden sowie immer wiederkehrende Neumenabfolgen sprechen entweder für eine individuelle Innovation seitens Hildegards oder aber für ein mangelndes Können, das in einer Art "Baukastensystem" die einzelnen Neumen mit dem Text verbindet. Die Frage, ob die Melodien den Texten angepasst wurden oder ob sich der Liedtext den Neumen unterordnet, wurde bislang nicht eindeutig von der Forschung beantwortet.
Weiterführende Literatur:
- Newmann, Barbara (Bearb.): Hildegard of Bingen: Symphonia - a critical edition of the Symphonia. Ithaka/London 1988
- Konermann, Bernward (Hrsg.): Hildegard von Bingen: Ordo Virtutum - Spiel der Kräfte. Augsburg 1991
- Ordo Virtutum auf DVD
Verehrung und Brauchtum
Heiligsprechung
Bereits zu Lebzeiten wurde Hildegard wie eine Heilige verehrt. 1228 wurde ein erster Antrag auf Heiligsprechung gestellt. Das Verfahren dauerte jedoch so lange, dass selbst der letzte Versuch einer Kanonisation unter Papst Innozenz IV. im Jahre 1244 zu keinem Ergebnis führte. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde Hildegard dann in das Martyrologium, das Verzeichnis der Heiligen der Kirche, aufgenommen, ohne dass eine Kanonisierung erfolgte. Die regelmäßig zu größeren Festlichkeiten oder Jubiläen von Heiligen übersendeten päpstlichen Bullen zeugen von der großen Bedeutung Hildegards, die Bestätigung durch den aktuellen Papst Benedikt XVI. findet.
Laufende Verfahren beim Heiligen Stuhl
Von verschiedenen Gruppierungen wurde im 20. Jahrhundert ein Verfahren zur Anerkennung Hildegards als "Kirchenlehrerin" eingebracht. Dieses Verfahren ist nach wie vor im Vatikan in der Prüfungsphase.
Eibinger Reliquienschatz
Hildegard hat als eine der bedeutendsten Frauen des Mittelalters eine große Anzahl von Reliquien geschenkt bekommen und zusammengetragen. Diese als "Eibinger Reliquienschatz" bezeichneten Reliquien befinden sich, wie der Hildegardisschrein selbst, in der Pfarrkirche "Sankt Hildegard und St. Johannes d.T." in Eibingen. Der Reliquienschatz wird in dem südlichen Teil des Hauptschiffes in einem gläsernen Altar aufbewahrt. Der Hildegardisschrein befindet sich im Altarraum der Kirche in einem Hochgrab. Weiterhin gehören zum Eibinger Reliquienschatz:
- Das Haupt der Heiligen Gudula, der Nationalheiligen von Belgien und Patronin der europäischen Parlamentshauptstadt Brüssel.
- Das Haupt der Heiligen Berta, der Mutter des heiligen Rupert von Bingen
- Das Haupt des Heiligen Valerian
- Der Arm des Heiligen Rupert von Bingen
Hildegardisfest in Eibingen
Das religiös katholisch geprägte Hildegardisfest wird jährlich am 17. September in Eibingen gefeiert. Es gliedert sich traditionell in das am Morgen gehaltene Pontifikalamt und die mittags stattfindende Reliquienfeier mit anschließender Reliquienprozession durch die Straßen von Eibingen. Der Reliquienschrein wird an diesem Tag geöffnet. Das Fest schließt mit der Hildegardisvesper in der ebenfalls in Eibingen gelegenen Abtei "St. Hildegard".
Gesellschaften/Forschung
Die Hildegard-Forschung hat mittlerweile weltweite Bedeutung gewonnen. In Deutschland und Europa befassen sich unzählige Diplomarbeiten, Forschungsgruppen und Hildegard-Gesellschaften mit den Schriften und dem Wirken der Heiligen. In den letzten Jahren hat verstärkt Interesse an den Hildegard-Werken aus den Vereinigten Staaten und Asien eingesetzt. Hildegard-Kongresse in den USA oder Asien zeugen vom weltumspannenden Interesse am Thema der Nonnenklöster im allgemeinen und Hildegard im besonderen.
Werke
- Liber Scivias (1141-51)
- Liber vitae meritorum (1158-63)
- Liber divinorum operum (1163-73/74)
- Physica
- Causae et curae
Werksausgaben
Bücher
- Hildegard von Bingen - Das Pflanzen- und Kräuterbuch
- Hildegard-Heilkunde von A - Z: Kerngesund von Kopf bis Fuß von Wighard Strehlow
- Hildegard von Bingen - Klosterküche
- Hildegard von Bingen - Naturheilkraft für Frauen
Weblinks
- Heiligenlexikon
- Museum am Strom, Hildegard von Bingen
- Pfarrei St. Hildegard in Eibingen mit Informationen über Hildegard von Bingen und die Pfarrkirche sowie dem dort befindlichen Hildegardisschrein
- Abtei St. Hildegard in Eibingen mit Informationen über Hildegard von Bingen und das Klosterleben
- Litlinks: Werke im Internet
- Hildegard von Bingen im Projekt Gutenberg
- Biografie, Werk, Verweise
- Diskographie (engl.)
- Bistum Trier über Hildegard von Bingen
- http://www.bautz.de/bbkl/h/hildegard_v_b.shtml
- Biographie, Frauenbild, Briefwechsel mit Bernhard von Clairvaux im Volltext
- Digitalisat der Salemer Handschrift von Scivias
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