Martha Frahm

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Martha Luise Wilhelmine Frahm (* 16. März 1894 in Kalkhorst (Mecklenburg); † 3. August 1969 in Lübeck; gebürtig Martha Ewert; verheiratete Martha Kuhlmann) war eine deutsche Verkäuferin und die Mutter des SPD-Politikers, Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt, der 1913 als Herbert Karl Ernst Frahm in Lübeck geboren wurde.

Leben

Frühes Leben, Geburt des ersten Sohnes

Martha Luise Wilhelmine Frahm wurde am 16. März 1894 unter dem Namen Ewert geboren. Ihre Mutter war Wilhelmine Ewert, die ihre Tochter Martha im Alter von 19 Jahren nichtehelich zur Welt brachte. 1896 bekam Wilhelmine Ewert ebenfalls nichtehelich den Sohn Ernst, dessen Vater der Knecht Ludwig Frahm war. Ihn heiratete Wilhelmine Ewert am 12. Dezember 1899 in Klütz.

Zwei Jahre später gab Ludwig Frahm Martha Ewert durch Einbenennung seinen Namen, wie Pastor Heinrich Krüger im Kalkhorster Kirchenbuch festhielt: „Laut Bescheinigung des Großherzogl. Justizministeriums vom 29. April 1900 hat der Arbeiter Ludwig Frahm die Erklärung abgegeben, daß er dem von seiner Ehefrau Wilhelmine Ewert am 16. März 1894 außer der Ehe in Kalkhorst geborenen Kind Martha Luise Wilhelmine Ewert seinen Namen Frahm erteile“.[1]

Martha Frahm erhielt ihre Schulbildung an der Volksschule in Klütz, die sie nach sieben Jahren abschloss. 1907 zog die Familie nach Lübeck und wohnte dort schließlich im Stadtteil St. Lorenz in der Meierstraße. 1913 starb Martha Frahms Mutter. Die Tochter blieb bei ihrem Stiefvater Ludwig Frahm, der inzwischen als Kutscher arbeitete und später als Lastwagenfahrer der Drägerwerke beschäftigt war, und ihrem Stiefbruder. Sie arbeitete zunächst als Putzfrau und war später als Verkäuferin im Konsumverein tätig, bei dem sie 1913 fest angestellt wurde.

In ihrer Freizeit besuchte sie das Theater Lübeck mit einem Abonnement des Volksbühnen-Besucherrings, war Mitglied im Arbeiterbildungsverein und übernahm Rollen bei Aufführungen des Proletarischen Sprechchors. Sie reiste gerne und verbrachte im Sommer oft Zeit an der Ostsee in Travemünde, fuhr aber auch vom Norden Deutschlands in die deutschen Alpen.

Im Jahr 1913 wurde Martha Frahm schwanger und brachte am 18. Dezember 1913 in der Zwei-Zimmer-Wohnung in der Meierstraße 16, in der sie mit ihrem Stiefvater lebte, mit Hilfe der Hebamme Luise Lotzow ihren Sohn Herbert zur Welt. Den Namen des Vaters nannte Martha Frahm nicht, als die Geburt dem Standesamt gemeldet wurde. Am 26. Februar 1914 ließ Martha Frahm ihren Sohn Herbert von Alfred Stülcken im Pastorat II der Lübecker Vorstadtkirche St. Lorenz taufen. Die Taufe in der Gemeindekirche wurde nichtehelich geborenen Kindern nicht zugestanden.

Martha Frahm nahm ihre Arbeit bald nach der Geburt ihres Sohnes wieder auf. Um das Kind kümmerten sich währenddessen Nachbarn und der Stiefvater Martha Frahms. Als dieser während des Ersten Weltkriegs Soldat war, schickte ihm Martha Frahm Briefe ins Feld, denen sie Fotos von sich und ihrem Sohn beilegte, den sie dafür und für besondere Ereignisse in Matrosenuniform mit „Wäsche achtern“ kleidete.

Herbert Frahm nannte den Stiefvater seiner Mutter Papa, als Vater wurde er in Schulzeugnissen Herberts wie dessen Abiturzeugnis genannt. Dass Ludwig Frahm nicht sein leiblicher Großvater war, erfuhr er erst 1934 vom Bruder seiner Mutter, seinem Onkel Ernst. In seinen Erinnerungen stellte Willy Brandt das Kapitel über seine Kindheit und Jugend in Lübeck unter die Überschrift Unbehauste Jugend.

Der leibliche Vater Herbert Frahms war kein Thema in der Familie: Über meinen Vater sprachen weder Mutter noch Großvater, bei dem ich aufwuchs; daß ich nicht fragte, verstand sich von selbst. Und da er so offenkundig nichts von mir wissen wollte, hielt ich es auch später nicht für angezeigt, die väterliche Spur zu verfolgen, schrieb Willy Brandt in seinen Erinnerungen.[2] 1927 will Herbert Frahm den Namen John Möller aufgeschnappt haben. Der in Hamburg geborene John Heinrich Möller (1887–1958) war Realschullehrer, wurde aber 1933 wegen seiner Nähe zur Sozialdemokratie aus dem Schuldienst entlassen und arbeitete später als Buchhalter. Erst als der Sohn erwachsen war, bestätigte ihm Martha Frahm 1948 die Identität des Vaters, in dem sie John Möller aus Hamburg auf einen Zettel schrieb. Willy Brandt hatte bei seiner Mutter schriftlich angefragt, als er seine Wiedereinbürgerung betrieb.

Die Herkunft ihres Sohnes wurde mit Julius Leber, Hermann Abendroth, einem mecklenburgischen Grafen, einem deutschnationalen Amtsgerichtsrat bis hin zu einem bulgarischen Kommunisten namens Pogoreloff in Verbindung gebracht, nachdem Brandt als Politiker Karriere gemacht hatte.[3] Rückblickend fragte sich Brandt: Warum habe ich es mir so so lange so schwer gemacht? Und mich nicht damit zufrieden gegeben, daß es beileibe mehr Lübecker Arbeiterkinder gab, die ihren Namen nicht kannten und den mütterlichen Namen trugen?[4] Für seine Herkunft als nichteheliches Kind habe er nichts gekonnt, und dennoch habe ihm die Nachrede einen Stachel eingepflanzt. Sie veranlasste den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer 1961 nach dem Bau der Berliner Mauer, ihn als alias Frahm zu bezeichnen.

Heirat, Geburt des zweiten Sohnes, Kriegszeit

1927 heiratete Martha Frahm den Maurerpolier Emil Kuhlmann und zog mit ihm in die Hansestraße 136. Mit Emil Kuhlmann hatte sie den Sohn Günther, der im Februar 1928 geboren wurde. Ihr erster Sohn Herbert, der inzwischen das angesehene Gymnasium Johanneum zu Lübeck besuchte, blieb bei ihrem Stiefvater Ludwig Frahm, der 1919 mit Dora Sahlmann die zweite Ehe schloss. Ihr Stiefvater kandidierte 1926 und 1929 auf der SPD-Liste für die Lübecker Bürgerschaft. Martha und Emil Kuhlmann nahmen ein Mädchen, Waltraud, in die Familie auf und erzogen sie bis zu deren Volljährigkeit mit 21 Jahren.

Als Martha Kuhlmanns erster Sohn Herbert 1933 ins Exil nach Norwegen ging, versteckte sie ihre Sorgen nicht und äußerte doch Verständnis.[5] Ihren Stiefvater Ludwig Frahm verlor sie am 15. Juni 1935 durch dessen Selbstmord. Der Sozialdemokrat war an der politischen Entwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus verzweifelt. Kurz darauf reiste sie nach Kopenhagen und traf dort ihren Sohn Herbert, der sich inzwischen Willy Brandt nannte. Ihr Mann Emil traf Willy Brandt 1937 während einer Kraft-durch-Freude-Reise in Oslo, die er unternehmen durfte, obwohl er 1934 mehrere Wochen in so genannte Schutzhaft genommen worden war.

Während des Zweiten Weltkrieges wurden Martha Kuhlmann und ihr Mann Emil im Jahre 1942 nach dem Luftangriff auf Lübeck in Untersuchungshaft genommen. Ihnen wurde Landesverrat zur Last gelegt. Der Vorwurf beruhte auf der Denunziation, sie hätten den Piloten der Royal Air Force Lichtzeichen gegeben. Nach mehreren Wochen kamen sie frei.

Post von ihrem im Exil lebenden Sohn erhielt sie in dieser Zeit nur gelegentlich über Deckadressen.

Nachkriegszeit, späteres Leben

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hoffte Martha Kuhlmann, ihren Sohn Willy bald wieder zu sehen, doch vertröstete dieser sie schriftlich am 26. August 1945: Für mich ergeben sich noch einige Aufgaben, die ich nicht liegenlassen kann. Aber eines Tages werde ich bei Euch erscheinen.[6] Willy Brandt kehrte am 8. November 1945 aus Norwegen nach Deutschland zurück, um als Korrespondent skandinavischer Zeitungen über die Nürnberger Prozesse gegen Kriegsberbrecher zu berichten. Aus Oslo traf er mit dem Flugzeug in Bremen ein. Seine Bitte, einen Abstecher nach Lübeck machen zu dürfen, wurde Brandt, der noch norwegische Uniform trug, von einem US-Leutnant mit der Begründung abgelehnt, sein Travel Order (Marschbefehl) gelte nur für den direkten Weg nach Nürnberg.

Die Fahrt nach Lübeck ermöglichte ihm wenige Tage später der Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen, der ihm sein Auto mit Fahrer sowie Benzin zur Verfügung stellte. Als Willy Brandt unerwartet in Uniform vor der Tür stand, erkannte die Mutter ihren Sohn nicht auf Anhieb, ebenso wenig sein Halbbruder Günther.[7] Die schwerblütige Natur der Mecklenburger erleichterte das Wiedersehen, das viele Worte nicht vertragen hätte. Erst als die Aufregung sich legte und die Freude, einander gesund wiedergefunden zu haben, einkehrte, tauschten wir uns aus – über unsere Erfahrungen, über die Verbrechen der Nazis und was man davon gewußt habe.[8] Martha Kuhlmann versuchte ihrem Sohn zu vermitteln, dass sie, wie andere Antinazis, sich nicht für mitschuldig an Untaten erklären lassen wollte, die sie nicht begangen hatte, wofür der heimgekehrte Sohn Verständnis zeigte.[9]

Aus Nürnberg, wohin Brandt weiterreiste, erhielt Martha Kuhlmann von ihrem Sohn Grüße auf einer Postkarte.

1947 erhielten Martha und Emil Kuhlmann in Lübeck Besuch von Willy Brandt, der ihnen seine norwegische Freundin und spätere Ehefrau Rut Bergaust, geborene Hansen, vorstellte.

Nachdem Willy Brandt mit seiner Frau Rut eine Familie gegründet hatte, in den ersten Bundestag gewählt worden war und in Bonn lebte, sorgte seine Frau für den Kontakt zur Schwiegermutter und deren Mann, die inzwischen in einer Doppelhaushälfte im ländlichen Vorrade des Lübecker Stadtteils St. Jürgen wohnten. Vor allem der älteste Sohn Peter Brandt liebte die seltenen Besuche bei Großmutter Martha und Stiefgroßvater Emil, den er wegen seiner Handfertigkeiten sehr bewunderte. Rut Brandt über die Lebensverhältnisse ihrer Schwiegereltern: Das Haus hatte eine Küche und ein Wohnzimmer unten sowie zwei Zimmer oben. Ein Badezimmer gab es nicht, und der Abort war im Stall, wo man in Gesellschaft mit Schweinen und Hühnern saß – zum großen Vergnügen der Kinder in den folgenden Jahren.[10]

Rut Brandts Anliegen war es vor allem, den Kindern Familientradition zu vermitteln. Bei den Besuchen war Politik ein beliebtes Thema. Sie waren gute, treue SPD-Genossen, Emil und Martha, aber sie waren nicht immer zufrieden mit der Partei. Es gab Dinge, die sie ärgerten, Verhältnisse, über die sie sich beklagten, und da war der eine oder andere Genosse, der dies und das gesagt hatte. Willy langweilte das, mir machte es Spaß, ihnen in ihrer Mundart zuzuhören, je mehr ich sie verstehen lernte. Vor allem Willys Mutter konnte sich über die Partei ärgern. (…) Willy hatte das Gesicht seiner Mutter, dieselben ausgeprägten Züge.[11]

Martha Kuhlmann nannte ihren Sohn, der inzwischen auch offiziell den Namen Willy Brandt trug, weiterhin stets bei seinem Geburtsnamen Herbert.

In seiner Zeit als Bundespolitiker und Regierender Bürgermeister in Berlin pflegte Willy Brandt stets nach Lübeck, in seine Mutterstadt, zu kommen, um dort auf Wahlkampf-Abschlusskundgebungen am Vortag von Wahlen zu sprechen. Diese Gelegenheit verband er mit Besuchen bei seiner Mutter und dem Stiefvater. Rut Brandt dachte später so oft an sie, als in den Wahlkämpfen skandalöse und infame Angriffe gegen den Sohn gerichtet wurden, weil er unehelich geboren war. Aber sie durften noch viele seiner Erfolge miterleben.[12]

Die Wahl ihres Sohnes zum Bundeskanzler nach der Bundestagswahl am 28. September 1969 erlebte Martha Kuhlmann nicht mehr. Sie starb am 3. August 1969 in Lübeck. Willy Brandt setzte nach ihrem Tod seine Gepflogenheit fort, Wahlkämpfe in Lübeck zu beenden.

Literatur

  • Willy Brandt: Erinnerungen. 5. Aufl., Propyläen Verl., Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-549-07353-4.
  • Rut Brandt: Freundesland. Erinnerungen. 18. Aufl., Hoffmann und Campe, Hamburg 1994, ISBN 3-455-08443-5.
  • Martin Wein: Willy Brandt – das Werden eines Staatsmannes. 1. Aufl., Aufbau-Taschenbuch-Verl., Berlin 2003, ISBN 3-7466-1992-0.


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  1. Martin Wein: Willy Brandt – das Werden eines Staatsmannes. Aufbau-Taschenbuch-Verl., Berlin 2003, S. 17.
  2. Willy Brandt: Erinnerungen Ullstein-Taschenbuch, Berlin 1992, Erw. Ausgabe, ISBN 3-548-22977-8 S. 86
  3. Willy Brandt: Erinnerungen Ullstein-Taschenbuch, Berlin 1992, Erw. Ausgabe, ISBN 3-548-22977-8 S. 86
  4. Willy Brandt: Erinnerungen Ullstein-Taschenbuch, Berlin 1992, Erw. Ausgabe, ISBN 3-548-22977-8 S. 85-86
  5. Martin Wein: Willy Brandt – das Werden eines Staatsmannes. Aufbau-Taschenbuch-Verl., Berlin 2003, S. 91.
  6. Martin Wein: Willy Brandt – das Werden eines Staatsmannes. Aufbau-Taschenbuch-Verl., Berlin 2003, S. 290.
  7. Peter Merseburger: Willy Brandt, 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2002, ISBN 3-423-34097-5, S. 225
  8. Willy Brandt: Erinnerungen Ullstein-Taschenbuch, Berlin 1992, Erw. Ausgabe, S. 143
  9. Peter Merseburger: Willy Brandt, 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2002, ISBN 3-423-34097-5, S. 227
  10. Rut Brandt: Freundesland. Erinnerungen. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 1992. ISBN 3-455-08443-5. S. 91
  11. Rut Brandt: Freundesland. Erinnerungen. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 1992. ISBN 3-455-08443-5. S. 91-92
  12. Rut Brandt: Freundesland. Erinnerungen. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 1992. ISBN 3-455-08443-5. S. 92